Tag 9 - Bert Nichols Hut zum Lake St. Clair

Laufzeit 4-5 Stunden (bis zum Bootsanleger - Narcissus Hut)

9 Kilometer

30 Meter Aufstieg, 160 Meter Abstieg

Eine eisige Nacht liegt hinter mir. Ich habe nie so schlecht geschlafen, wie diesmal. Aufwachen - mehr anziehen, Toilette, schlafen - aufwachen.... Mir tut alles weh, das rechte Bein hat die Matratze satt, mein Bauch sehnt sich nach etwas Handfesterem als dehydrierter Nahrung und Trockenobst und mein Kopf hat viele Stunden lang versucht, eine Entscheidung zu fällen. Er ist so müde wie ich. Soll ich heute aufhören oder nicht? Soll ich diesen Abstecher ins Pine Valley machen, von dem alle sooooo sehr geschwärmt haben oder die Wanderung mit einer Bootsfahrt beenden? Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.

 

In meinem Rucksack ist noch Essen für weitere vier Tage. Gerade so. Denn ich habe mehr von meinen Nüssen, den Riegeln und dem Obst verputzt, als ich dachte. Und so richtig satt macht dieses Abendessen auch nicht. Ich formuliere es mal so, es wäre keine reine Freude, dieser Abstecher. Auch wenn die Berge darüber - das Labyrinth - mit Sicherheit wunderschön sind. Aber - sind sie es auch für mich? Oder würde ich damit nur anderen Träumen folgen?

 

Naja, noch ist Zeit. Ich kann an der Kreuzung entscheiden, in ca. 1,5 Stunden....

 

Noch etwas hat mich heute Nacht gebeutelt. Die Gespräche, die ich gestern Abend aufgefangen habe. An diesem kuschligen Amphietheaterplatz drehte sich alles nur um andere Wanderungen. Irgendwo auf der Welt. Im Himalaya oder auf dem Jakobsweg. "Wie lange dauert der Jakobsweg? - Drei Monate. - Drei Monate? Pah, ich mach's in zwei Wochen". Die Überheblichkeit, mit der mir diese Worte um die Ohren flogen, hat mich ganz krank gemacht.

 

Aber ich konnte es erst in der Nacht fühlen. Erst in den stillen, kalten Stunden wird mir klar, wie sehr diese andere Welt an mir zerrt. Diese Welt, in der der Selbstwert ausschließlich über die Leistung definiert wird. Schneller, höher, weiter. Immer wieder auf's neue.

 

Erst jetzt spüre ich, wieviel Energie es mich wirklich kostet, inmitten des Strudels in meiner Stille und Bewußtheit zu bleiben. Und - wie tief ich wirklich mit den Orten verbunden bin, die meine Füsse berühren. Ich brauche keine spezielle Pilgerroute. Meine Wanderungen sind immer spirituell. Ich gehe immer mit einer offenen Seele und weitem Herzen. Ich bin so. Ich will gar nicht anders sein. 

 

Die Sonne strahlt vom Himmel, als ich aufbreche. Diesmal bin ich nicht die Letzte. Aber noch bevor der Abzweig zum Pine Valley kommt, haben sie mich eingeholt.

 

Mit jedem Schritt überlege ich weiter. Aufhören oder nicht? Und immer klarer wird das Gefühl - es ist genug. Ich brauche keinen neuen Ort mehr, um mich diesem Land verbunden zu fühlen. Ich brauche keine Berge mehr, um ihre Schönheit zu geniessen. Ich brauche keine Nächte mehr, um mich den Sternen näher zu fühlen. Ich brauche keinen Wasserfall mehr, um darin zu baden. In mir ist alles schon längst da. Ich bin angefüllt mit Schönheit. Wie ein überfließender Krug. 

 

Was ich mir jetzt wünsche, ist nicht noch ein neues Stückchen Natur sondern ein warmes, kuschliges Bett. Ich wünsche mir leckeres Essen - soviel ich möchte. Ich wünsche mir einen großen, weiten See, um an seinem Ufer zu sitzen oder sogar zu schwimmen. Ich wünsche mir Wege, auf denen ich nicht nach Schlangen ausschauen muss. Ich wünsche mir eine Tür, die ich hinter mir zumachen kann und Räume, in denen mich weder Mücken noch Marchflies berühren können. 

 

Und so gehe ich weiter. Durch weite Eukalyptuswälder, trockenes Land, vorbei an kleinen Bächen, über Holzbohlenstege und Sümpfe. Bis zum See. Bis zum Lake St. Clair. Vom Bootsanleger bringt mich ein Mini-Schiff voller älterer Herrschaften, die nur mit viel Mühe ein- und aussteigen können, zurück in die Zivilisation. 

 

Ich habe mich nie freier gefühlt, als jetzt. Frei, in meinen Entscheidungen. Vollkommen unabhängig und ganz und gar ich selbst. Das ist es, was für mich jetzt stimmt. Nur, für mich. Dieses Raum, in dem ich ganz allein schlafen kann. Die Heizung. Die heiße Dusche. Frisch gewaschene Unterwäsche. Die große Schüssel mit gerösteten Kartoffelvierteln. Der Curry und die heiße Schokolade. Der abendliche See, an dem ich vollkommen allein sitze, weil alle die Mücken scheuen. Aber jetzt kann ich mich ja jederzeit in eine andere Stille zurückziehen. Ich habe nicht mehr diese unsägliche Wahl zwischen Stille, Marchflies und Mücken oder dem Lärm der Menschen. Es ist pures Paradies. 

 

Mein Bus fährt erst am kommenden Abend. Ein wunderbarer Abschied vom Overland Track. Genauso langsam und bewußt, wie ich jeden Schritt hier gegangen bin. Ich glaube nicht, das ich ihn noch einmal gehen werde. Ich glaube nicht, das ich ihn noch einmal gehen muss. Aber er hat mein Herz weit geöffnet für dieses harte, trockene Land und vor allem für seine Seele - die Aborigines.

Heilarbeit für Menschen, Orte und die Erde 0