Buchenwald - ehemaliges Konzentrationslager  (Foto: me / pixelio.de)

Es ist kalt hier oben. Eisig kalt an einem der letzten Tage dieses Jahres. Der Wind pfeift mir um die Ohren und dringt in jede ungeschützte Ritze. Es schüttelt mich. Aber da ist mehr als nur diese Kälte von Außen. Da ist auch die Kälte, die aus meinem Inneren steigt, wenn ich dieses Mahnmal betrachte. Es steht da wie ein Koloß. In Stein gegossene Schuld. Ein erhobener Zeigefinger, der weithin sichtbar in das Land hinausschaut und dem gesamten Ettersberg seinen Stempel aufzwingt.

 

Kein Mensch ist zu sehen, als ich hier entlang gehe. Ich bin allein mit Beton, Stein und Kälte. Allein mit einer riesenhaften Leere. Die Wege und Plätze sind gigantisch groß und erinnern mich an eine Architektur, an die hier wohl niemand erinnert werden möchte. So überdimensional hat auch der geplant, der die Juden zum Tod verurteilt hat. 

 

Die Tafeln der Erinnerung erzählen Geschichten von Gewalt und Mord. Meine Schritte gehen über die Asche und die Knochen von Menschen. Alles hier ist für mich wie eine ständige Wiederholung des Vergangenen. Anklage, Klage, Wut, Trauer, Schmerz, Hilflosigkeit, Ohnmacht - alles springt mich an, wie ein Tiger, der im Dunkel gewartet hat. Aber nichts davon hat in mir wirklich Resonanz. Ich bin schon zu oft in diesen Teil meiner Geschichte gereist. Ich habe sie von allen Seiten betrachtet und mich mit allen Teilen verbunden. Hier gibt es nichts mehr, was mich wirklich berührt. Im Gegenteil. Ich fühle, das diese Zementierung der Fronten von Gut und Böse jeder Weiterentwicklung im Weg stehen. 

 

Erinnerung ist eine Sache, aber wenn die Erinnerung zum ewigen Denkmal wird, dann wirkt sie für mich wie ein Pfropfen über dem Fluß des Lebens.

 

Was geschieht denn in einer Beziehung, wenn die Rollen von Opfer und Täter auf Ewigkeit in Stein gemeißelt bleiben? Was geschieht mit den Menschen? Was geschieht mit ihrem Selbstwertgefühl? Wie handeln sie? Wie werden sie verändert?

 

Ein Opfer wird für mein Gefühl, alles versuchen, um nie wieder Opfer zu sein. Er wird ins Gegenteil einschwenken, um wieder in die innere Balance zu kommen. Es wird so sensibel werden für jeden Ansatz, der ihn wieder dorthin bringen könnte, wo er nicht sein möchte, das er zuschlagen wird. Immer als Erster. Es wird laut werden, wo es keinen Grund gibt. Aus dem alten, ungelösten Schmerz heraus. Es wird ungerecht werden, weil der Blick für eine angemessene Reaktion von einer Vergangenheit voller Wunden versperrt ist. 

 

Und der Täter? Er wird sich kleiner machen, als er ist. Weil die Schuld in ihm nagt. Die Schuld der Geschichte. Er wird es kaum wagen, seine Meinung zu sagen, aus Angst, wieder in die alte Rolle zu rutschen. Er wird duckmäuserisch und verliert sein Selbstbewußtsein. 

 

Wem ist damit geholfen, die Opfer und Täterbilder am Leben zu erhalten? Wem dient es, das sich die Einen klein und die Anderen gewaltbereit machen? Niemandem. Was heilt es? Nichts.

 

Was würde ich denn den Menschen einer solchen Beziehung raten? Vergebung. Offene Arme. Verstehen. Miteinander. Ich würde sie dazu einladen, sich selbst im Anderen wahrzunehmen. Ich würde sie dazu einladen, festzustellen, das sie sich eigentlich sehr ähnlich sind, auch wenn das im ersten Moment niemand hören will. Ich würde sie dazu einladen, sich in Frieden von den alten Bildern zu lösen. Ich würde sie einladen, einen Sinn in ihrer Geschichte zu finden und einen Impuls, um weiterzugehen, als sie es je zuvor zu träumen wagten. Ich würde sie dazu einladen, die Geschenke ihrer Vergangenheit zu finden. Daraus entsteht ein neuer Anfang, der keine Wiederaufgüsse der Vergangenheit braucht. Daraus entsteht eine Freiheit in der Weiterenwicklung.

 

Ich würde ihnen ganz sicher nicht dazu raten, Altäre vergangener Ereignisse zu schaffen und täglich an ihnen zu knien. So, wie ich es hier erlebe. So, wie ich es an so vielen Stätten der Geschichte zwischen jüdischem und deutschem Volk erlebt habe. 

 

Wie frei sind wir denn heute mit uns, unserer Geschichte und miteinander? Sind die Menschen Israels nicht mitten in ihrem Trauma der Opferhaltung erstarrt und schlagen nun ihrerseits dort zu, wo sie neues Unrecht schaffen? Sind sie nicht heute die Menschen, die aus den Wunden ihrer Vergangenheit heraus, andere zum Tod und Vegetieren verurteilen? Fühlen sie sich denn heute nicht denjenigen gegenüber überlegen, die auch auf dieser Erde leben. Den arabischen Völkern? Wer baut die Mauern, wer nimmt das Wasser? Es sind nicht die Palästinenser. Es sind die Israelis.

 

Und wir Deutschen? Erheben wir frei unsere Stimme, wenn wir sehen, was dort geschieht? Erheben wir frei unsere Stimme, wenn es um irgendeine Ungerechtigkeit in der Welt geht? Oder überlegen wir nicht zehnmal bevor wir auch nur einen Laut von uns geben? Aus der Angst heraus, wieder als Besserwisser und neue Despoten im alten Gewand verschrien zu werden. Wieso haben wir soviel Angst, Stolz zu zeigen auf das was wir sind? Warum können wir nicht unsere Fahne schwenken und uns darüber freuen, wie sie im Frühlingswind tanzt? 

 

Nein, wir sind nicht frei. Genau so wenig, wie das jüdische Volk es ist. Wir sind in unseren alten Rollenbildern eingefroren. Und jedes Mahnmal, so gut es gemeint ist, ist ein neuer Eispanzer, der die Welt mit Kälte überzieht. Der Weg funktioniert nicht. 

 

Für mich öffnet sich mit diesen Gedanken das Herz, um diesen Ort mit anderen Augen zu sehen. Ich nehme die Schönheit des Etterberges wahr. Buchenwälder, so weit das Auge reicht und ein Ausblick, bei dem mein Herz zu hüpfen beginnt. Es ist wunder-, wunderschön hier oben. Ich spüre die Stimmen der Bäume, die Natur, um mich herum. Ich fühle, das dieser Ort endlich mit anderen Sinnen betrachtet werden möchte. Er hat keine Lust mehr auf die Raster, die seit so vielen Jahrzehnten hier angelegt werden. Er hat keine Lust mehr auf die Fesseln, die die Blicke der Menschen in immer gleiche Bahnen lenken. Er hat es satt nur als Ort der Vernichtung wahrgenommen zu werden. Und ich - ich bin es auch satt. Es reicht. 

 

Ich schaue mir den Film noch an, ich erlebe den Beginn einer Führung. Ich spüre die Begeisterung, die Betroffenheit, das Engagement und das Herzblut aller Beteiligten. Ich kann sie dafür achten. Aber, es ist nicht mehr meine Welt. Es ist nicht mehr mein Denken und mein Fühlen. Ich gehe, noch bevor wir das Gelände wirklich betreten würden. Ich gehe, weil ich genug habe.

 

Ich gehe, weil es für mich Zeit ist, für einen neuen Horizont. Eine Zeit ohne Täter und Opfer. Eine Zeit des Miteinanders. Der Hand in Hand gemeinsam gehens. Eine Zeit der echten Menschlichkeit. Eine Zeit, in der wir den Bruder in unserem ärgsten Feind erkennen. Eine Zeit, in der aus Feinden wirkliche Freunde werden. Nicht, als Verpflichtung, nicht aus Scham oder Schuld heraus, sondern weil sie es wirklich so empfinden. Freundschaft kann nicht verordnet werden. Sie kommt nur aus dem Herzen. Dann, wenn Schuld, Angst, Opfer und Täter der Vergangenheit angehören. 

Heilarbeit für Menschen, Orte und die Erde 0