Paris ist purer Wahnsinn. Ich habe niemals so viele Menschen auf einem Platz gesehen. Stau. Verrückte Autofahrer. Jeder hat es unendlich eilig. Jeder fährt kreuz und quer und sucht nach einem winzigen Vorteil, einer winzigen Lücke, um ein paar Zentimeter schneller zu sein. Menschen. Menschen. Menschen. Ein Kessel aus angestauten Gefühlen. Bunt und scharf wie ungarischer Schaschlik.
Die Straße führt an der Seine entlang. Ich sehe nur Menschen und Autos. Tausende. Die ganze Welt hat sich hier versammelt. Hier, im Herzen von Paris. Bei Notre Dame. In den Gassen um die Kirche ist alles gedrängt und eng.
Ich finde ein Parkhaus, dass selbst für mein kleines Auto einem Alptraum an Winzigkeit gleicht. Milimetergenaues Fahren. Kunstvollstes Einparken. Selbst die Toiletten im Bistro sind minimalistisch. Jemand, der anders als der dünne "Durchschnittsmensch" ist, hat hier keine Chance. Und dann stehe ich auf der Straße. An der Seine. Die vorbeikriechenden Autos, die Menschenmassen. Ich blende sie aus. Spüre die Weite des Platzes, die Weite des Flusses. Jetzt ist nur noch Notre Dame wichtig.
Ich liebe diese Kirche. Sie ist für mich pure Schönheit. Versunken in ihren Anblick reihe ich mich in die Schlange ein, die hineinführt. Nur um in der vollsten Kirche zu landen, die ich jemals gesehen habe. Ein Meer von Menschenleibern. Es ist kein Platz mehr. Gar keiner. Jeder Winkel ist besetzt. Gleich beginnt ein Gottesdienst. Im "inneren Bereich". Ich gehe hinein und finde ganz vorn einen leeren Stuhl. So nah am eigentlichen Zentrum, wie es nur möglich ist. Ganz nah an dem Altar, dem Bildnis von Maria. Wie immer in der christlichen Religion nur in einer Frauen"rolle" dargestellt und verherrlicht. Als Mutter.
Aber in Notre Dame herrscht für mein Gefühl etwas ganz Anderes und es wird jetzt, wo ich sitze ganz deutlich fühlbar. Pure Frauenkraft. Es nimmt mir fast den Atem, mit welcher Gewalt und Klarheit diese Kraft fühlbar ist. Direkt über dem Altar der Mutter sehe ich im nächsten Moment Kali, die pure Wildheit der Frau. Ungefesselt, ungestüme Urgewalt. Die Frau, die töten kann, schreien, um sich schlagen, kämpfen, verteidigen. Die, die Wut fühlen und zulassen kann. Die Frau, die das pulsierende Feuer verkörpert. Es um sich sprühen lässt. Beide zusammen, beide Frauen - die Mutter und Kali sind dort fühlbar. Und sie gehören zusammen. Untrennbar. Daran kann auch über ein Jahrtausend Kirchendoktrin nichts ändern. Kali ist da. Mitten in Notre Dame. Pures Leben. Pures Feuer. Pure Kraft neben der Sanftheit, Hingabe und Heiligkeit. Nur zusammen ergeben sie ein Ganzes. Nur zusammen sind sie Weiblichkeit. So wie Liebe alles ist. Jede Farbe, jeder Ton, jedes Gefühl. Feuer und Wasser.
Es ist total schön, diese Ganzheit hier zu fühlen. So präsent, so deutlich, so sichtbar.
Der Raum vor mir füllt sich. Der Gottesdienst läuft weiter ohne dass ich ihn noch bewußt wahrnehme. Der Raum füllt sich mit Frauen aus anderen Zeiten. Aus allen Zeiten. Jahrhunderten, Jahrtausenden. Ich sehe Priesterinnen in langen Gewändern mit weiten, offenen Haaren. Sie vollziehen ein Ritual zu Ehren der Göttin. Ich sehe ihr Leuchten. Sie sind meine Ahninnen. Meine Wurzeln als Frau. Ich spüre ihre Präsenz und ihre ganze Schönheit. Ihre ganze Kraft, ihre ganze Vielfalt und ihre ganze Liebe. Sie füllen diese Kirche aus. Sie strahlen weiter, weit über diese Mauern hinweg. Hinein in die Welt. So, wie ich selbst in die Welt hinausstrahle.
Vor mir steht eine der Frauen. Sie sieht mich an. Ganz nah mit einem Blick purer, reiner Liebe. In diesem Augenblick fällt Licht auf mich. Von oben, von der Kuppel. Eine leuchtende Spur, direkt aus dem Himmel. Ich bin gesegnet, so fühle ich es. Ich bin gesegnet. Das füllt mich aus in diesem Moment. Eine tiefe Gewissheit. Es braucht keine Worte mehr. Es braucht keine Bilder mehr. In mir ist vollkommene Klarheit. In mir ist das Gefühl, unendlich tief beschenkt zu sein.
Das Licht verlässt mich nicht. Es ist immer da, seitdem. Ich kann es jederzeit spüren, wenn ich mich darauf konzentriere. Ich bleibe gesegnet. Ich bin gesegnet als die ganze Frau, die ich verkörpere. Gesegnet von der Liebe.
Danke! Danke aus tiefsten Herzen!
Der Segen der Göttin, der Segen der Frau, der Segen der Liebe ist nicht für mich allein. Er ist immer dort. Egal, was in Gottesdiensten geschieht. Egal, was um den Platz herum geschieht. Er bleibt präsent. Unverzerrbar, unzerstörbar, unveränderbar. Es gibt keine Wertung. Hier herrscht Liebe. Sie kennt kein Schlecht oder Böse. Sie ist Liebe. Für jeden fühlbar, der sich dafür öffnen möchte. Sie leuchtet.
Ich glaube, dass dieser Ort, Notre Dame dieses ganze Land Frankreich gesegnet hat. Es ist ein schönes Land und es hat Paris zu seinem Zentrum gemacht. Es hat den Ort der Liebe zu seinem Zentrum gemacht. Wie kann ich mich da wundern, dass sich die Franzosen als "Grande Nation" verstehen? Ja, dieses Land ist gesegnet. Aber der Segen hält nicht an den Landesgrenzen an. Er strahlt in die ganze Welt hinein. Wir alle sind eine Grand Nation. Wir alle sind eine gesegnete Welt. Wir alle leben an einem Ort der Liebe und des Leuchtens. Es gibt keine Grenzen. Nicht für die Liebe. Nicht für die Kraft der ganzen Weiblichkeit.
Und jeder, der es fühlt, trägt es weiter.
Hinein in diese Welt.
So, wie ich jetzt.
Diesmal ist es ganz anders hier. Die äußere Schönheit berührt mich immer noch. Ich fühle auch weiterhin die Energie, die hier strömt und lebt. Aber eine ganz andere Botschaft, ein ganz anderes Gefühl bricht sich jetzt seine Bahn.
Es beginnt mit dem Schock, als ich die Kathedrale betrete. Sie ist so düster. So unendlich dunkel und drückend. Ja, da sind die Buntglasfenster, die Pracht, die Brillianz der Farben. Aber es bleiben kleine Inseln, kleine Schimmer in einem Raum, der mich hinunterzieht. Ich kenne das Leben jetzt als leuchtenden Fluß, als pure Energie. Ich kenne sie als freien, ewigen Strom, voller Kraft, unbändig. Dieses düsteren Mauern, das dunkle Innere ist das Gegenteil dieses Lebens. All' diese Kreativität in der Architektur erscheint mir nur ein Abglanz zu sein, eine farblose Kopie einer unkopierbaren Wirklichkeit. Es ist ein Versuch, festzuhalten, was fließen muss. Die Mauern ersticken. Sie scheinen mir als falscher Schutz, als eine Illusion. Die Illusion, etwas festhalten zu können, was bei jedem Festhalten stirbt.
"Liebe lässt sich nicht in Mauern sperren."
Sie muss lebendig, frei und weit strömen können. In jeder Form, in jeder Art, in jedem Moment. Jeder Versuch, sie einzusperren, wird sie töten. So klar, so deutlich, wie hier, in diesem Moment, habe ich das niemals vorher gefühlt.
All' diese Mühe, all' das Geld, all' die Schätze, alle Kreativität sollte jetzt in etwas anderes fließen. Für mich ist die Zeit steinerner Monumente vorbei. Ich will leben, keine Denkmäler. Ich will Schönheit, in jedem Augenblick, mit jedem Atemzug des Lebens.
Ja, es ist schön, zu sehen, was Menschenhände möglich machen. Es ist eine Offenbarung, die Kunstfertigkeit unserer Herzen zu fühlen. Aber trotz allem, es bleibt Kopie, es bleibt für mich, toter Stein. Ich weiß im gleichen Atemzug, das Stein niemals tot ist, aber dieser Drank etwas für die "Ewigkeit" in "Stein zu meißeln", lässt für mich das Leben darin sterben. Er stellt etwas dar, was er nicht ist. Und auch nicht sein sollte.
Auf dieser heiligen Quelle, dieser puren Energie, auf der diese Kirche steht, wirkt das ganze Bauwerk für mich jetzt wie ein Pfropfen auf einer Sektflasche. Er versperrt, er blockiert, er dämmt ein. Ja, die Quelle ist da. Und wie. Ich fühle sie in all ihrem Strahlen, in all ihrem Licht. In all ihrem pulsierenden Leben. Dieses frische, blühende Leben, das wünsche ich mir hier anstatt des steinernen Meers. Ich wünsche mir stetigen, ewigen Wandel. Momente sind nicht zum Festhalten da. Und Gott - Gott braucht keine Botschaften aus Stein. Sie liebt das satte Grün....
Ich sehe die Wälder vor mir, die blühenden, leuchtenden Wiesen. Klare Bäche. Lachende Menschen. Frei, unbekümmert. Lebendig! Städte? Nein, danke. Sie sind für mich in diesem Augenblick die pure Antithese des Lebens.
Und so gehe ich aus dieser Kirche, aus dieser Stadt, mit all ihren wundervollen Bauwerken, mit all ihrer Kunst. Ich sehe sie, ich kann sie schätzen, aber ich freue mich darauf, einen Baum zu umarmen. Ich freue mich darauf, den Wind in meinem Haar zu spüren und den Geruch blühender Kirschbäume. Ich freue mich auf die Weite des Horizonts. Ich freue mich darauf, im Fluss zu schwimmen und mich treiben zu lassen. Die Augen im Himmel, den Körper auf der Erde. Weil ich dort Gott wirklich fühle. In mir und in allem, was mich umgibt.