Kälte schlägt mir entgegen. Seelenkälte. Das hier ist keine Kirche, die Zuflucht bietet. Es ist kein Ort des Schutzes oder der Geborgenheit im Glauben. Es ist ein Ort der Zur-Schaustellung von Größe. Ein Ort, der Macht demonstriert. Unerreichbare, unzerstörbare und unangreifbare Macht. Man könnte es auch Größenwahn nennen. Alles hier ist absolut überdimensioniert. Jede einzelne Statue. Jedes Gewölbe. Die Menschen verschwinden in dieser Gigantonomie wie Spielzeugpuppen. Sie spielen gar keine Rolle.
Das hier ist also das Herz des Christentums? Das hier stellt die Essenz dieses Glaubens dar? Nein, es stellt eigentlich nur den Machtanspruch der Kirche dar. Den Machtanspruch des Vatikans. Sie erzählt von einem Glauben, der einen Übervater braucht, weil die Menschen selbst als schwach und hilflos dargestellt werden. Sie erzählt von der Überzeugung, das nur eine starke Hand die sündigen Wesen über diese Erde führen kann. Mir wird schlecht bei dieser Wahrnehmung.
Für mich erzählt der Glauben von Liebe. Aber Liebe kann ich hier nicht spüren. Sie kommt daher in der despotischen Hand eines "Herren", der straft und degradiert, aber niemals umarmt. Sie kommt daher in der Form einer Gottheit, die nur Willkür kennt. Einer Gottheit, deren Willen man erraten muss und doch immer falsch liegt. Einer Gottheit, die die eigenen Fehler niemals einsieht sondern sie ausnahmslos auf schwächere Schultern verteilt und dafür dann Strafen ausgibt. Dieser Gott ist wahnsinnig. Er entspricht dem alten Bild des Vaters. 2000 Jahre eingemeißelter Hierarchieglauben springen mir hier entgegen.
Es gibt noch nicht einmal einen wirklichen Platz zum Sitzen. In allen Ecken finden kleine Gottesdienste statt. Sie sind in die Seitenkapellen verbannt, denn die Mitte gehört nur der Protzigkeit und Selbstdarstellung. Künstlerisch ist der Petersdom wirklich sehenswert. Aber wohlfühlen ist hier für mich bei den ersten beiden Besuchen vollkommen unmöglich.
Erst beim dritten Mal dringe ich endlich durch alle diese Schichten der - ja, der Arroganz. Erst dann kann ich fühlen, das unter all dieser falschen Pracht eine Kraft liegt, die mir fast den Atem raubt. Das hier ist kein einfacher Platz. Beileibe nicht. Es ist auch nicht einfach nur eine Energielinie. Es ist ein richtiger Knotenpunkt. Unter all dem Marmor brodelt eine Quelle, die so machtvoll ist und wunderschön, das mir die Knie weich werden.
Diesmal finde ich auch den Weg in eine Seitenkapelle, in der ich mich in Stille niederlassen kann und mich ganz öffnen, für das was gefühlt werden möchte. Hier habe ich den Zugang zu diesem Ort. Zu seinem wirklichen Herzen. Zu seiner wirklichen Seele.
Ich reise durch alle Schichten und Zeiten. Lasse mich hineinfallen in den Strom dieser ungeheuren Energie. In mir ist Licht. Engelsflügel. Ich bin sofort und direkt verbunden mit dem Zentrum der Erde und dem Himmel. Das hier ist der Ort, um Liebe zu lernen. Wirkliche Liebe. Liebe, die alles umarmt, auch das, was ich im Petersdom und vom Vatikan erlebe. Das hier ist der Platz, um die Vollkommenheit jedes Weges zu sehen. Gerade im Angesicht dieser Disharmonie, gerade im kompletten Überschwang männlicher Potenzdarstellung, gerade im Angesicht des Exzesses kann ich den Sinn in jedem Schritt der Menschheit fühlen. Alles hat seinen Sinn. Alles hat seinen Platz.
Mein Herz öffnet sich, ganz weit. Liebe ist die Antwort. Sie ist immer die Antwort. Und ich bin Liebe. Tiefer, tiefer und tiefer sinke ich hinein in dieses Gefühl, bis die Mauern um mich schmelzen und der Himmel ganz nah ist. Jetzt kann ich die Schönheit des Doms würdigen. Jetzt kann ich diese Kunstfertigkeit wirklich in mich einsinken lassen. Jetzt kann ich auch den Bischöfen und Pastoren, die hier Dienst tuen lächelnd zuschauen. Sie sind auf ihrem Weg. Wie jeder Mensch. Sie lernen, Schritt für Schritt.
Und niemand, niemand kann fehlgehen, weil wir alle am Ende im Himmel landen. Wohlbehalten, trotz aller Kratzer, Striemen und Wunden, die wir uns unterwegs zuziehen. Unsere Seelen werden niemals wirklich beschädigt. Sie vergessen niemals, wer wir wirklich sind. Und die Liebe? Die braucht die Angst nicht zu fürchten. Sie braucht gar nichts zu fürchten. Weil sie nichts zerstören kann.
Diesmal gehe ich leichten Schrittes aus diesem Monument der Gigantonomie. Ich fühle die Verletzlichkeit hinter den Mauern. Eine Unsicherheit und Verletzlichkeit, die so eine Zurschaustellung braucht, um vor sich selbst zu bestehen. Und vor der Welt. Auf das niemand die Risse wahrnimmt. Ich fühle, das diese Welt langsam zu Ende gehen wird. Ganz langsam. Und bis dahin kann ich einfach dabei stehen, beobachten und aussprechen, was ich wahrnehme. Mehr braucht es nicht.