Papstaudienz auf dem Petersplatz

Es ist halb sieben Uhr morgens, als ich aus dem Schlaf gerissen werde. Sonntag. Sonntag? Oh Gott, natürlich! Papstaudienz für Jedermann auf dem Petersplatz. Sie findet immer dann statt, wenn Franziskus in Rom weilt. Und Hundertausende wollen dabei sein. Unter anderem auch meine Mitbewohner in diesem kleinen Kloster. Vier Stunden vor dem eigentlichen Beginn pilgern sie los, um sich einen guten Platz zu sichern. Vier Stunden Warten, bis auch nur irgend etwas geschieht.

 

Ich drehe mich um und möchte weiterschlafen. In diesem Augenblick habe ich noch das Gefühl, das mich nichts zum Petersplatz bringen wird, an diesem Morgen. Aber ich habe die Rechnung ohne die Gläubigen gemacht. Sie poltern so lautstark herum, das an Schlafen nicht mehr zu denken ist. Glauben scheint egoistisch und rücksichtlos zu machen. Oder gehen sie nur einfach davon aus, das jeder ihren Schritten folgen muss? Das es gar keinen anderen Ort geben kann, an dem man die kühlen Morgenstunden heute zu verbringen hat? Vielleicht sind sie auch einfach nur in so freudiger Erwartung, das alles andere unwichtig wird. Nebenschauplatz. 

 

Zwei Stunden später bin auch ich unterwegs. Noch folge den Strömen der Menschen, die alle nur ein Ziel haben. Sie haben es eilig. Richtig eilig. Nonnen, Priester, Bannerträger und einfache Leute. Die Energie, die sie ausstrahlen summt vor freudiger Erwartung. In dem Moment werde ich neugierig. Ich möchte einfach mal schauen, wie sich das in so einer Menschenmenge anfühlt. Wie die Leute sind, wenn sie auf dem Platz stehen. Was geschieht in ihrem Inneren. Wie ihre Gesichter aussehen und wie sich ihre Austrahlung verändert. Ich bin einfach neugierig, was hier passieren wird.

Also reihe ich mich ein in die Schlangen vor den Sicherheitskontrollen. Die Polizisten um mich herum sind allesamt festlich gelaunt. Fröhlich, überschwenglich und ganz und gar nicht ordnungssüchtig. Eher heiter und mitfühlend. Eine angenehme Erfahrung. Sie steht ganz im Gegensatz zur Laune der Audienzbesucher. Kaum haben wir diese modernen Eingangstore durchlaufen, beginnen sie zu rennen. Sprint. Vor zum Zaun. Vorn. Weit vorn wollen sie stehen. Es ist ein richtiger Wettbewerb. Ellenbogen sind die Hauptwaffe. Wortgewaltigkeit die Andere. Schimpfen und Drängeln ist Normalität. Das sieht sehr, sehr christlich aus. 

 

Der Platz füllt sich zusehens. Und ganz ohne Kampf und Wollen bin ich so weit vorn gelandet, wie man nur landen kann, wenn man erst knapp über eine Stunde vor dem Audienzbeginn hier eintrifft. Der gesamte bestuhlte Innenraum des Platzes ist schon lange besetzt. Reihe um Reihe. Ich habe keine Ahnung, wie viele Menschen hier versammelt sind, aber die Erbauer des Platzes wußten offensichtlich genau, was sie taten. Da ist kein Meter zu wenig. 

Ich bin mittlerweile gut eingezwängt und kann nur mit Mühe meinen Platz bewahren, um halbwegs bequem zu stehen. Besonders eine Italienerin neben mir, beginnt richtig zu nerven. Sie verdonnert einen netten Polizisten dazu, ihr ständige Extrawürste zu braten. Einen Stuhl bitte. Schatten. Und zwischendrin palavert sie lautstark ins Handy oder schreit über die Köpfe hinweg gut gelaunt mit einer Freundin. Immer, wenn sie wieder aufsteht, werden ihre Bewegungen handgreiflicher. Sie verteidigt ihren Raum mit jedem Körpereinsatz, der ihr angebracht scheint. Freundlichkeit ist hier nicht zu spüren. Und irgendwann habe ich genug und brülle zurück. Da zuckt sie zusammen und es ist Ruhe. Die Umstehenden lächeln mir zu. Scheinbar hat sie nicht nur mich genervt. O.k., so weit, so gut.

Vorn auf den Stufen des Doms beginnt Bewegung. Langsam treffen alle hohen geladenen Gäste und Würdenträger auf den dafür vorgesehenen Plätzen ein. Und ein klein wenig "Entertainement" wird auch geboten. Ein Lied erklingt. Aus Tausenden Kehlen. Die Madonna, die heute hier extra verehrt wird, schaukelt sacht getragen an den Gläubigen vorüber. Dazu gehört dieses Lied. Es lässt mir Schauer über den Rücken laufen. Gänsehaut pur.

 

Zum ersten Mal erlebe ich die ungeheure Kraft einer solchen Menschenmasse. Zum ersten Mal fühle ich, was wir Menschen für eine Kraft entfesseln können, wenn wir mit einem Wunsch, einem Herzen und einer Stimme sprechen. Zum ersten Mal wird mir bewußt, das wir gemeinsam jeden Berg versetzen können. Was für eine Wucht. Was für eine Energie. Ich habe Tränen in den Augen und bin vollkommen gelähmt. Bloß gut, das die Kirche diese Kraft nicht so zu spüren scheint, wie ich gerade. Ansatzweise, ja. Aber nicht in der Ganzheit. Die Energie ist es, die die Menschen wegträgt und sie gläubig macht. Dabei ist die Kraft in ihnen. In jedem Einzelnen. Der Berg ist von jedem auch allein versetzbar. Der Glauben schafft die Wirklichkeit. Deutlicher als in diesem Moment kann man es kaum spüren. 

Mein Herz wird ganz trunken vor Glück über diese Entdeckung. Und alles, was sonst noch kommt an diesem Morgen, rückt ins Reich der Bedeutungslosigkeit. Selbst der Papst. Besonders der Papst. Ich bekomme es kaum mit, als Franziskus endlich wirklich erscheint. Er verschwindet zwischen all den einheitlich gekleideten Würdenträgern. Er ist kaum auszumachen in der Menge. Ich bin sprachlos. Dieser Papst hat keinerlei Ausstrahlung. Gar keine. Er wirkt so unscheinbar, das er für mich ein energetisches Loch wird. Es gibt ihn gar nicht. Seine Aura, sein Wesen ist für mich nicht fühlbar.

 

Was geht hier vor? Das ist doch der Papst, der anscheinend ein Erneuerer der Kirche ist, oder? Warum kann ich ihn dann nicht fühlen? Er müsste doch weithin leuchten mit seiner Energie. Statt dessen ist dort ein blankes Nichts. Er geht unter. Jeder Andere dort oben ist deutlicher wahrnehmbar als er. Ist er so weit in seiner Demut gegangen, das er sein Selbst hinter Türen gesperrt hat? Ich weiß es nicht. Ich merke nur, das ich dieses Nichts nicht aushalten kann. Es hat mich zu Tode erschrocken. Keine Sekunde länger kann ich auf dem Platz bleiben. 

 

Wo auch immer die Kirche mit ihm hingeht, es scheint mir kein guter Ort zu sein. Ein Oberhaupt, das keines ist. Was bleibt dann? Wer regiert wirklich? Welche Richtung wird eingeschlagen und wer bestimmt den Weg? Franziskus erscheint mir als ein offenes Gefäß, in das jeder das hineinschütten kann, was ihm gefällt. Das ist faszinierend und erschreckend zugleich. Besonders weil er sich so ganz anders darstellt. Oder dargestellt wird.

 

Etwas stimmt hier ganz und gar nicht. So wenig, das ich mich jetzt zurückziehe. Sofort. Es ist fast unmöglich, durch die Menschenmassen zurück zu drängen. Aber es geht am Ende doch. Eigentlich lege ich eine blanke Flucht hin. Diese Kirche, dieser Papst sind mir ab sofort in höchstem Maße suspekt. Mehr noch als jemals zuvor. Mein Herz zittert noch immer von dem Erschrecken. Es hat noch niemals die Leere berührt. Bis eben. 

 

Ich stehe im Schatten und beginne mich zu beruhigen. Es ist gut, dieser Athmosphäre entflohen zu sein. Es ist nicht meine, was auch immer hier noch geschieht. Dieses Erlebnis jedoch, das werde ich nicht vergessen.....

Heilarbeit für Menschen, Orte und die Erde 0