Ich fühle die Ausstrahlung dieses Stadions schon von Weitem. Jeder Schritt, der mich die Prachtstraße der Kaiser entlang näher bringt, erlebe ich in zwei Zeiten zugleich. Die Ströme der Sklaven, der Verurteilten, der Gladiatoren ziehen mit mir zum Ort ihrer Verdammnis. Hoffnungslosigkeit. Wut. Haß. Abgestumpftheit. Gottergebenheit. Alle Gefühle sirren durch die Luft und tränken den Boden.
Bei den Touristen spüre ich nichts davon. Auch nicht, als ich das Gebäude betrete und den Atem anhalten muss, um nicht von der Wucht der Energien umgerissen zu werden. Ich kann mich kaum auf den Beinen halten und sie schwatzen fröhlich vor sich hin, als wären sie bei einem Picknick am Sonntagmorgen. So ging es wohl auch den Römern, als sie zu ihren Spielen hierherkamen. Für sie war es ein wunderbares Spektakel. Fest und Freude.
Mir wird ganz elend bei der Vorstellung, das blutiges Gemetzel Freude bereiten kann. Wie muss es in den Herzen der Menschen ausgesehen haben, die hier auf den Stufen picknickten und dem Morden dort in der Arena zuschauten? Wie hat es sich angefühlt, Menschen auf immer neue sadistische Arten sterben zu sehen? Was braucht es, um das fantastisch zu finden?
Mit wackligen Beinen laufe ich um das Rund und finde eine Nische, in der ich mich setzen kann. Es ist eine dieser Stufen, auf denen die Römer damals saßen. Ich kann sie fühlen. Neben mir. Ich kann ihre leuchtenden Augen sehen. Ihre Begeisterung. Sportsfreude, sozusagen. Die Anfeuerungen schwirren durch das Rund. Aufgeputschte Gefühle. Blut. Blut. Blut. Sie wollen Blut sehen, sie wollen andere sterben sehen, um ihre eigene Welt zu vergessen.
So anders ist es heute auch nicht. Die Fernsehprogramme dieser Welt sind voller Gewalt, Blutvergiessen und Toter. Je mehr Action. Je mehr ausufernde Szenen der Vernichtung, umso besser. Der Unterschied liegt nur darin, das hier wirklich lebende Menschen sterben. Im Fernsehen ist es "nur" eine Show. Aber die Gemüter und die Herzen vergiftet es nicht weniger.
Eigentlich braucht es nur ein Gefühl. Der, der da stirbt, muss ein Fremder sein. Nicht nur ein Fremder sondern ein Aussätziger. Etwas, das ich nicht einmal mit der Zange anfassen würde. Der Mensch dort unten muss zu etwas Räudigem degradiert werden. Etwas, das nicht lebenswert ist. Siehe Nazi-Philosophie. Auch da sind die Parallelen augenscheinlich.
Wenn die Römer die Menschen im Stadion nur noch als Sklaven und unwerte, niedere Kreaturen wahrnehmen, dann ist es ein Leichtes, sie auch umzubringen. Das ist die Maschinerie, die jeden Krieg am Laufen hält. "Der Andere ist nicht wie wir." Oder "Der Andere ist eine Gefahr für die eigene Ordnung, für das eigene Leben." Trennung. Einfach Trennung von etwas, was eigentlich Brüder und Schwestern sind und immer zusammengehört hat.
Ich fühle die Blutbäder, die hier geschehen sind. Es war ein Ort der Exzesse. Eine halbe Millionen Menschen sind hier unter dem frenetischen Jubel der Zuschauer gestorben. Ihnen folgten Millionen von Tieren. In einem wahnsinnigen Rekord starben im Jahr 107 nach Christus unter Kaiser Trajan 10.000 Gladiatoren und 11.000 wilde Tier innerhalb von 123 Tagen. Das alles, um das Schlachtenglück der Römer auf dem Balkan gebührend zu feiern.
Ich sitze an dem Ort, der wohl am tiefsten mit Blut getränkt worden ist. Ich fühle den Schmerz der Opfer. Ich höre ihre Schreie. Ich spüre ihre Fassungslosigkeit. Meine Tränen wollen nicht aufhören zu fließen. Der Schmerz rast durch meinen ganzen Körper, explodiert im Kopf. Ich spüre die flehenden Hände, das Betteln um Gnade. Und die Eiseskälte in einem blindwütigen Mob auf den Rängen, der nichts davon spüren will.
Und immer wieder erlebe ich dabei die erstaunten Blicke einiger vorbeischlendernder Touristen. Sie können nicht viel mit einem Menschen anfangen, der hier seinen Gefühlen freien Lauf lässt. Niemand von denen, die ich sehe, scheint wirklich wahrzunehmen, was hier geschehen ist. Niemand scheint es fassen zu wollen. Für die meisten ist das hier nur ein weiterer Ort, den sie auf ihrer Besichtigungsliste abhaken können. Eigentlich ist das für mich noch viel schlimmer, das mitanzusehen, als die Grausamkeit auf einem anderen Jahrtausend zu spüren. Denn diese Kälte und Unnahbarkeit bedeutet für mich, das sich viel weniger geändert hat, als ich es mir wünschen würde.
Ich weiß nicht, wie lange ich so sitze. Ich weiß nicht, wie lange dieser endlose Strom aus Schmerz, Leid, Todesqualen, Tränen und Schreien durch mich hindurchfließt. Ich habe das Gefühl, alles mitzuerleben, was jemals hier geschehen ist. Ich habe das Gefühl, jeden Tropfen Blut in den Boden fließen zu sehen. Und ich habe das Gefühl, all die Jubelrufe in meinen Ohren klingen zu hören.
Ich sehe die Römer auf den Rängen und ich vergleiche sie unwillkürlich mit dem frenetischen Jubel, den ich aus Fußballstadien kenne. Ich verleiche sie mit dem "Mob", der auch heute noch leicht in der Lage ist, einen "Feind" totzuschlagen. Es tut so weh, zu erleben, wie nah wir der Vergangenheit sind. Wie schnell wir eine Grenze ziehen können, zwischen dem eigenen Leben und dem, das uns im Auge unseres Gegenübers ansieht. Es tut weh, unsere eigenen Viel-Klassen-Gesellschaften zu betrachten.
Diese Unterscheidung zwischen Asylanten und Einheimischen zu Beispiel. Die Verhärtung der Herzen, wenn wir jemanden vor uns sehen, den wir als Gefahr für unsere eigene Existenz betrachten. Ich habe es so oft erlebt, diese unglaublich Kälte und Gefühllosigkeit.
Dieser Ort hier sollte ein Mahnmal sein. Ein Mahnmal, es niemals wieder zu so einer Mauer in unseren Herzen kommen zu lassen. Es sollte ein Ort der Versöhnung und des Miteinanders sein. Ein Ort, an dem alle Mauern eingerissen werden und wir Hand in Hand stehen. Gemeinsam. Als lebende Wesen. Gleichberechtigt. Brüder. Schwestern. Menschen. Tiere. Es gibt keinen Unterschied. Der Andere ist ein Teil von mir. Ich bin ein Teil von ihm. Wenn ich ihn töte, töte ich mich selbst.
Wie lange wird es dauern, bis wir das verstehen? Wieviele Kolosseen wird es noch brauchen, bis wir das wirklich leben?