Poço das Patas - Azoren

Der Weg hinauf zum See ist rutschig. Extrem rutschig. Er ist mit Steinen gepflastert, die jetzt, in der Nässe des April, vollgesogen sind mit Wasser. Auf diesen Steinen wird jeder Schritt zum Balanceakt. Eine falsche Bewegung und ich käme in den Genuss einer äußerst holprigen Eisbahn.

 

Als ich meine Blicke endlich vom Boden lösen kann, als die Konzentration endlich auch meine Umgebung einschliessen darf, stockt mir der Atem. Was ich sehe, ist das Paradies.

 

Zehn Wasserfälle zähle ich, die hier in einen wunderschönen See strömen. Die Luft ist voller Düfte. Feucht, schmeichelnd und unglaublich lebendig. Das Grün um mich herum steckt so voller Energie, das ich es fast knistern höre. Hier ist es so, wie diese Erde sein sollte. So, wie sie eigentlich gemeint ist.

 

Hier kann ich sehen, ahnen, fassen und fühlen, in was für einem Paradies ich auf diesem Planeten wirklich leben würde, wären da nicht die Zerstörungen der Menschen.

Meine Tränen sind ernsthafte Konkurrenz für die Fülle an Wasser vor meinen Augen. Alles, was ich in den letzten Tagen auf den Azoren gesehen habe, all die Widersprüche und die Veränderungen dieser Natur, wird in diesem Moment an die Oberfläche gespült.

 

Ich bin teilweise wie gelähmt und betäubt seit meiner Ankunft, weil das, was Menschen hier erschaffen haben mit meinem Bild und meinem Gefühl der Inseln nur sehr schwer in Übereinstimmung zu bringen sind. Nichts hier passt wirklich zusammen. Weder die Häuser, noch die Menschen, noch ihre Orte. Ich fühle mich am falschen Platz, auch wenn ich die Natur ab und zu wiedererkenne. Es ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Chaos statt Ordnung.

 

Jetzt weiß ich, warum. Weil die Inseln eigentlich so sein sollten, wie hier. Genau so. Das ist das Bild in meinem Inneren. Das ist meine Erinnerung an Atlantis. Das ist die Blaupause. Das Original. Unverfälscht. Rein. 

Ich weine und weine und weine. Unendlich tiefer Schmerz ist es, der durch mich hindurchfließt. Ich weine um die verlorenen Paradiese auf den Azoren. Ich weine um die verlorenen Paradiese dieser Erde. Ich weine um all die Orte, an denen die Schönheit übermalt wurde. Zertreten, Zerrissen, Vergewaltigt. Ich weine für die Menschheit, die zu so etwas fähig ist. Ich weine um verhärtete Herzen und verschlossene Seelen. Es ist ein Ozean der Traurigkeit. Eine Welt des Verlorenen. Es ist das Wissen um das, was eigentlich möglich wäre und die gnadenlose Wahrnehmung einer Realität, die so unendlich weit entfernt ist von dem, was hier vor mir liegt.

Mir wird bewußt, das jeder irgendwie auf der Suche nach so einem Paradies ist. Die Erinnerung steckt in uns allen. Aber wir nehmen unsere Ängste an diese Orte mit. Wir kommen auf eine Art, die das zerstört, was wir uns so sehnlichst wünschen. Jeder unserer Schritte zu den Paradiesen, wie diesem hier, ist ein Totengesang für diese Orte.

 

Weil wir innerlich leer kommen und gefüllt werden wollen und weil die Menschen, die uns empfangen in jedem Besucher letztlich eine Geld- und Überlebensquelle sehen. So funktioniert es nicht. Und selbst der langsame Wandel kann mich in diesem Moment nicht beruhigen. Ich spüre, das es eigentlich nur eine wirkliche Lösung gibt. 

 

Ein Ende dieser Suche. Das Paradies ist nicht irgendwo da draußen. Es ist nicht am anderen Ende der Welt. Es ist nicht der Regenbogen, der uns im Urlaub erwartet. Nicht die Auszeit vom eigentlichen Leben. Solange wir dort weiter suchen, werden wir zerstören, statt nähren. Solange wir dort suchen, werden wir niemals wirklich finden. 

 

Nein, das Paradies ist jetzt und hier. Genau an dem Ort, an dem wir sind. Nirgendwo anders. Wenn wir nicht in der Lage sind, es dort zu erschaffen, werden wir es auch nirgendwo anders können. Es wird immer ein Ersatz bleiben.

 

Und noch schlimmer. Solange wir dort draußen nach dem Paradies schauen, vernachlässigen wir das Paradies vor unserer Haustür. Wir nehmen Dinge in Kauf, die wir an unserem "Erholungsort" niemals akzeptieren würden.

 

Wir akzeptieren es in einer Umwelt zu leben, die weit entfernt ist von dem, was wir uns erträumen. Wir akzeptieren ein Leben, aus dem uns nur der Urlaub retten kann. Das Ferienhaus am anderen Ende der Welt...

 

Das ist es auch, was ich hier in Portugal so oft gefühlt habe. Bei den Auswanderern, bei den Winterflüchtlingen. Auch auf Flores bilden sie eingeschworene Gemeinschaften, die letztlich nicht wirklich in den Kontakt mit den Einheimischen kommen wollen. Und wenn, dann bleiben sie innerlich distanziert, weil sie in ihrem Blick besser sind, als die Menschen, die hier leben. Sie suchen und suchen. Sie flüchten. Und bei all den wunderbaren Dingen, die sie hier erschaffen, bleiben sie Fremde. 

 

Meine Arbeit als Reiseleiterin nährt auf den ersten Blick die Suche da draußen. Die Suche nach dem Paradies. Die Suche nach einer Erfüllung. Ich unterstütze mit meiner Arbeit die Zerstörung einer Welt. Daran können auch alle ausgleichenden Projekte nichts ändern. Daran ändert auch ein "atmosfair" Siegel nichts. Jeder Flug, der Menschen an diesen Ort bringt, schädigt die Erde. Das ist mir vollkommen bewußt. 

 

Mir ist allerdings auch bewußt, das ich Reisen leite, weil ich den Menschen genau diese Botschaft zukommen lassen will. Ich arbeite, um meine Arbeit überflüssig zu machen. Ich habe kein Interesse daran, das die Tourismusindustrie wächst. Ich bin hier, weil ich die Menschen daran erinnern möchte, wo sie wirklich finden, was sie in ihren Urlauben suchen.

 

Das Paradies ist in ihnen. In mir. In dir. Und nirgendwo anders. Von dort aus kann es austrahlen. Und nur von dort aus.

 

Das macht das Reisen nicht überflüssig. Aber es ändert die Motivation ganz grundlegend. Dann kommen die Reisenden nicht als Bettler. Sie kommen nicht als Flüchtlinge vor einem Leben, das sie selbst kaum ertragen können. Sie kommen nicht, weil sie etwas suchen, was sie zu Hause verloren haben. Nein, dann kommen sie mit einem Korb voller Geschenke. Echter Geschenke. Von Herz zu Herz. Dann kommen wie als wirkliche Freunde. Und sie werden als Freunde empfangen werden.

 

Für mich wird dieser Tag ein Feiertag sein.

 

Während ich das schreibe, spüre ich, zum ersten Mal, das genau dort der Unterschied liegt, der meine Reisen ausmacht. Ich bin nicht auf der Flucht. Ich suche nicht. Ich schenke. Ich verschenke mich.

 

All dieser innere Hader, den ich mit mir, meiner Arbeit und meinem Unterwegs sein hatte, fällt ab. All die zweifelnden Stimmen in mir, die mich für das Fliegen verurteilen wollten und für meine Unterstützung Kurzzeit-Urlaubs bekommen einen anderen Tonfall. Sie verstummen.

 

Äußerlich mag das, was ich mache gleich aussehen, aber in mir hat sich in diesen letzten Minuten etwas rapide verwandelt. Mir wird bewußt, das ich wirklich aus Liebe reise. Und das ich diese Liebe mitbringe, wohin ich auch immer komme. Ich erlebe es jeden Tag. Ich höre den Menschen zu, ich erreiche ihre Herzen, ich schenke Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Achtung. Ich bin eine Schatztruhe. Weit geöffnet. Und ich möchte nichts anderes sein....

Heilarbeit für Menschen, Orte und die Erde 0