Persönliche Eindrücke

Dieses Land berührt mich tief in die Seele. Es ist ein Ort, an dem die Extreme aufeinanderprallen, wie nirgendwo sonst auf dieser Erde. Natur, in ihrer ungeschliffenen, wildesten Form begegnet den sanftesten Menschen, die ich kenne. Westliche Zivilisation überrollt in voller Wucht eine Jägertradition, die in einem Wimpernschlag in sich zusammensinkt, als hätte sie niemals existiert.

 

Der Wandel hier ist erschreckend radikal. So radikal, das die Menschen keine Chance haben, wirklich Schritt zu halten. Sie bleiben auf der Strecke. Sichtbar. Ungeschminkt und so direkt, das es im Innersten trifft und schmerzt. So ist es auch bei den amerikanischen Ureinwohnern gelaufen. So läuft es bei den Aborigines. So geht es jedem indigenen Volk, das mit der "modernen Welt" in Kontakt kommt. Es wirkt so brutal, so kompromisslos und so grausam, das jedes Gemetzel dagegen wie ein leichtes Wiegenlied daherkommt.

 

Hier wird die Psyche von Menschen vergiftet. Subtil und dafür umso zerstörerischer. Sie haben niemals gelernt, sich zu wehren. Sie haben niemals gelernt, sich gegen menschliche Schliche zu verteidigen. Sie haben niemals Kriege geführt. Sie sind in ihrer Geschichte immer zurückgewichen, wenn ihnen ein Angreifer gegenüberstand. Bis es keinen Ort mehr gab, der weiter weg gewesen wäre. Doch jetzt hat diese Welt sie eingeholt.

 

Grönländer haben in einer der unwirtlichsten Gegenden der Erde überlebt. Sie sind Meister darin, mit der Natur hier zurechtzukommen. Es ist ein Kunststück, das sich erst ansatzweise ermessen lässt, wenn man selbst einmal mit einem Jäger unterwegs war, die Polarnacht erlebt hat oder einen der Stürme mit über 200 km/h über sich hat toben hören. Hier kommt man sich als Mensch sehr, sehr klein vor inmitten einer übermächtigen Natur. Das hat diese Kultur geprägt. Das hat sie auf engstem Raum zusammenstehen lassen, denn nur so konnten sie überleben. Allein hätte hier niemand existieren können. Deshalb ist das Netz des Zusammenhaltes auch sehr viel fester, als ich das kenne. Alles definiert sich über den Familienclan, der mit allen Neffen, Nichten und Cousins sehr, sehr groß werden kann. 

 

Jetzt jedoch sind alle bisherigen Regeln außer Kraft gesetzt. Die Jagd garantiert nicht mehr das Überleben. Die Zeiten, als es für Felle noch genug Tauschwerte gab, sind vorbei.  Für Grund und Boden muss gezahlt werden. Nahrung kauft man im Supermarkt. Es stammt ebenfalls fast ausschließlich aus Dänemark und reicht, insbesondere in Ostgrönland nicht an die Qualität im Mutterland heran. Die Arbeitsplätze, bei denen sich Geld verdienen lässt, sind größtenteils in den Händen der Kommunen. Bezahlt vom Staat oder besser gesagt, von den Subventionen Dänemarks. Die Gehälter sind im Vergleich zu Deutschland fast doppelt so hoch. Die Ausgaben vor Ort jedoch auch. Wer keine Arbeit hat, lebt von Sozialhilfe. So sind aus stolzen Jägern Bettler und Abhängige geworden. 

 

Das alte Wissen scheint in dieser neuen Welt überflüssig geworden zu sein. Das Selbstbewußtsein der Menschen ist sehr tief gefallen. 

 

Ich jedoch spüre nur Hochachtung und Schmerz, wenn ich sie heute sehe. Ratlos. Hoffnungslos. Vom Alkohol zersetzt. Werden sie es schaffen, durch diesen Sturm zu segeln? Wird die Selbstmordrate einem neuen Leben weichen? Finden sie eine Lösung für das immense Problem der Müllberge? Schaffen sie es, ihre Tradition im Herzen zu bewahren. Können sie einen neuen, eigenen Weg zu sich selbst kreieren? Bleiben sie auf irgendeine Art und Weise sich selbst treu und können trotzdem mit dem Rest der Menschheit im Kontakt bleiben? Es ist ein Kampf auf Leben und Tod. Im Augenblick geht es steil nach unten.

 

Aber irgendwie habe ich Vertrauen. Ich habe Hoffnung. Nicht nur, weil das das Rote Haus steht und lebendiger Treffpunkt und Lernort ist. Nicht nur, weil ich die Fortschritte sehe, auch wenn sie noch so "mini" sein mögen. Nicht nur, weil das Lächeln weiterhin auf den Gesichtern der Menschen lebt. Nicht nur, weil die Gemeinschaft der Ivi lebendig ist. Ich habe Vertrauen ins Leben selbst. Ich glaube, es gibt einen Weg. Überall. Immer. 

Heilarbeit für Menschen, Orte und die Erde 0