Wittenberg ist meine Heimatstadt. In dieser Kirche stand ich sehr, sehr oft in meinem Leben. Ich versuchte mich durch die 94 Thesen von Martin Luther zu lesen und gab bald auf, weil für mich alles gleich klang.
Aber ich spürte auch immer in dieser Kirche seine Anwesenheit. Wie ein Schutzpatron. Ein Wesen, das da ist, wenn man es braucht. Wenn es nötig ist, Kraft und Zuversicht zu schöpfen. Bei einer dieser Begegnungen habe ich gefühlt, dass er kein Heiliger war. Kein Übermensch. Er hatte Angst vor Verfolgung. Er hatte Angst, seine Wahrheit auszusprechen. Ich konnte seine Furcht spüren, so wie ich meine eigene spüre. Und es war für mich, als würde ich seine Hand auf meiner Schulter fühlen. "Geh' deinen Weg. Was immer geschieht." Danach fühle ich mich niemals mehr allein mit der Angst. Niemals. Ich wußte, dass jeder, der etwas "Neues" aussprach, einen neuen Weg begann, seinem Herzen folgte in einer Welt, die anderes zu klingen schient, sie gekannt hat.
Für mich ist diese Schlosskirche ganz besonderer Ort. Sie war ein Symbol in der Zeit der Wende, als Friedrich Schorlemmer hier vor vollen Bänken predigte und eine neue Zeit heraufbeschwor. Gemeinsam mit den Menschen. Mit - dem Volk. Damals konnte ich nicht in den vollen Raum kommen. Schon Stunden vorher war die Kirche gesperrt. Überfüllung. Ich musste auf die Stadtkirche ausweichen. In meinem Herzen habe ich das Feuer gefühlt. Das Feuer des Wandels. Das Feuer einer neuen Zukunft. Auch dafür steht diese Kirche in meinem Herzen.
Heute ist Weihnachtsmorgen. Alle Menschen sind außerhalb der Kirchenmauern unterwegs, auf der Suche nach den letzten Geschenken für den Gabentisch. Die Hektik und der Streß prallt an den steinernen Mauern ab. Innen ist Weihnachten. Der große, mit Strohsternen geschmückte Weihnachtsbaum mit seinen Kerzen ist das Zentrum. Und es strahlt, glitzert, leuchtet, funkelt. Wunderschön. Zwei Männer sind dabei, die letzten Vorbereitungen für die heutigen Gottesdienste zu treffen. Einer von ihnen singt ununterbrochen. "Stille Nacht, heilige Nacht." Es ist nicht so einfach, ihr getriebiges Tun auszublenden und mich ganz auf die Kirche zu konzentrieren, aber es gelingt mir nach ein paar Anlaufschwierigkeiten. Ich sitze ganz vorn und schaue zum Altarraum.
Es ruft mich zum Zentrum dieses Raumes. Ein Ort, an dem ich das Zentrum fühle, wie ein pulsierendes, lebendiges Wesen. Ein Kreuz an dessen Schnittpunkt ich jetzt stehe und weiter zum Altar und zum Weihnachtsbaum schaue. Ich konzentriere mich auf mich selbst. Auf die Liebe, die ich in mir fühle. Wie in einer tiefen Meditation. Ich bin mir meiner selbst bewußte. Mit großer Klarheit. Und ich spürte das Licht, das Leuchten in mir, wie eine schimmernde Flamme.
Und dann findet etwas statt, dass sich wie eine heilige Hochzeit anfühlte. Ich fühle einen Lichtstrahl, eine Lichtsäule aus dem Inneren der Erde aufsteigen, wie die Lava in einem Vulkan. Aber ohne jede Gewalt, eher wie ein sanfter Fluß, ein Ausdehnen, ein Einatmen. Er steigt höher und höher, führte mitten durch mich hindurch. Weiter, weiter hinauf. In den Himmel. Ich fühle sein Pulsieren, wie ein lebendiges Wesen. Er beginnt sich zu drehen, ein DNA-Strang aus purem Licht, der Himmel und Erde miteinander verbindet und den Menschen einschließt. In seine Mitte. In sein Herz.
Ich bin an diesem Abend auch beim Weihnachtsgottesdienst. Die Lichtsäule ist weiterhin da und grüßt mich. Und auch eine Woche später, als ich noch einmal außen an der Kirche vorbeifuhr konnte ich sie sehen. Wie eine Erinnerung. Ich weiß, dass sie nicht mehr gehen wird.