Hiddensee ist mitten in meine Seele gesunken. Fast heimlich, fast unmerklich. Und trotz der Tatsache, das ich mich nur teilweise willkommen fühle am Ende Deutschlands. Hiddensee hat die Gastlichkeit nicht wirklich nötig. Sie wird überrollt, eingenommen, besetzt. Jahr für Jahr. Sommer für Sommer. Die Insel war immer ein Refugium, das Freigeister, kreative Denker, Künstler und Zivilisationsflüchtlinge angezogen hat, wie Honig die Bienen. Hier gibt es nicht das Problem, Gäste anzulocken, hier gibt es nur das Problem, sie in überschaubaren Grenzen zu halten.
Im Sommer, an Wochenenden und an Feiertagen überschwemmen die Tagesgäste wie eine emsige Ameisenkolonie den Dornbusch. Für ihr Zahl bildet nur die Kapazität der Schiffe vom Festland eine Grenze. Übernachtungsgäste haben das Problem, eine Unterkunft finden zu müssen. Zeltplätze gibt es nicht, wildes Schlafen am Strand ist fast unmöglich und die Zahl der Betten ist klar einggeengt. Wer also herkommen möchte, muss gut vorausplanen, Monate oder fast Jahre vorher buchen und Leute kennen, die Leute kennen, die Leute kennen... Das hat sich nie geändert. Ob zu Zeiten von Gerhart Hauptmann, Asta Nielsen, Joachim Ringelnatz oder in der DDR.
Zum ersten Mal bin ich mehrere Nächte hier. Zum ersten Mal ist in mir die Ruhe, diesen Ort wirklich zu fühlen, mich ganz mit ihm zu verbinden. Aber in diesem Winter wird der Weststrand neu aufgespült. Der Sand, den das Meer ständig abnagt, muss wieder hergebracht werden, sonst gibt es die Insel bald nicht mehr. Leider hat mir niemand vorher gesagt, das die Maschinen unweit meiner Unterkunft im Einsatz sind. Mit tageshellem Flutlicht. 24 Stunden. Nonstop. Stille? Strandentfernung 50 Meter? Pustekuchen. Der Strand ist von Vitte bis Kloster gesperrt. Eine lange Metallröhre versperrt den Zugang.
Entschuldigungen höre ich nicht. Für die Leute hier, ist die Aufspülung Notwendigkeit. Basta. Damit muss man einfach klarkommen und wenn nicht, kann man ja woanders hingehen. Eine Beschwerde bei der Touristeninformation bringt mir nur genervte Blicke und knorzige Antworten ein. Die Botschaft ist klar. Ich solle mich gefälligst nicht so haben. Das ist keine Beeinträchtigung. Und warum sollte man mich vorher von einer Baustelle informieren? Auf diese Idee würde hier niemand kommen. Ich muss wohl einfach nur froh und dankbar sein, meinen Fuß überhaupt auf die Insel setzen zu können.
Wenn ich so mit Gästen umgehen würde, sollten sie mir mit Recht den Rücken kehren. Kompensation? Abhilfe? Entschuldgungen. Nichts bekomme ich. Gar nichts. Nicht von den alteingesessenen Einheimischen. Doch die jungen engagierten Leute, diejenigen, die nicht auf der Insel geboren sind, haben eine etwas andere Einstellung. Herzlich. Mitfühlend. Verstehend. Das tut gut und versöhnt mich ein bisschen. Hier muss ich eine klare Unterscheidung machen zwischen solchen und solchen Leuten. Und mich einfach an die Menschen halten, die ihr Herz noch nicht verschlossen haben. Es gibt sie, Gott sei Dank, überall.
In Kloster zum Beispiel - in dem kleinen, neuen Café, das Greifswalder Studenten eröffnet haben. In Vitte im Hotel Godewind. In Neuendorf. Dort fährt mir sogar ein Einheimischer hinterher, um mir die Öffnungszeiten vom Einkaufszentrum zu sagen. Überraschend, super nett.
Es ist ein Lernen. Ich nehme zwar wahr, wie sehr die Leute unter sich sind und wie eng die Inselgemeinde zusammenhängt. Ich nehme auch dieses Ausschießende wahr, aber ich beschließe, mich davon nicht beeinflussen zu lassen. Vielleicht ist das die wichtigste Lehre aus diesen Tagen. Ich bin nicht hier, um Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Ich bin hier, um die Schönheit dieser Insel zu genießen, ihre Energie zu fühlen und mich mit dem weiten Horizont zu vermählen.
Der Zauber von Hiddensee kann wirken. Er durchströmt meine Zellen, es ist wie eine Verjüngungskur. Ich könnte ewig an den Stränden entlanglaufen und den Wolken am Himmel hinterherträumen. Die Heide, der Dornbusch, der Leuchtturm, der Endorn. Jeder Ort fesselt mich mit seiner ganz eigenen Schwingung. Im Norden überrennt mich die Sehnsucht nach Schweden. Ich stehe am Strand, schaue nach Norden und kann Gotland fast mit Händen greifen. Die Tränen sind da, sofort. Schwedische Worte purzeln durch meinen Kopf und in mir fließt eine Liebe und Sehnsucht über, die mich fast in die Knie sinken lässt. Schweden.... Am Weststrand fühle ich Dänemark. Ich spüre die Verheißung, die soviel Menschen in der DDR-Zeit genau von hier hat fliehen lassen.
Hiddensee war immer ein Stück Freiheit. Es ist so geblieben. Ich kann es mit Händen greifen.