Persönliche Eindrücke  (Fotos: Ricklef Dmoch - Thomas Max Müller - Andreas Hermsdorf / pixelio.de)

Inseln bilden eine eigene, geschützte Welt für sich. Eine Welt mit klaren Grenzen, die alles, was von außen kommt, als Bedrohung erlebt. Für England gilt das in meiner Wahrnehmung ganz besonders. Seit hunderten von Jahren haben die Menschen hier Angriffe von den Ländern jenseits ihrer Meere erlebt. Römer, Normannen, Wikinger, Sachsen. Alle kamen herüber, um sich zu bedienen. Ohne eine eigene starke Kraft, ohne Verteidigung und ohne Einigkeit im Inneren ist die Insel nicht zu halten. Das haben die Engländer im Laufe ihrer Geschichte unzählige Male erlebt. Interessanterweise sind jedoch viele der weitreichensten Impulse für eine Weiterentwicklung gerade aus diesen Konflikten gewachsen. Einige der wichtigsten Herrscher, stammten nicht aus den eigenen Reihen sondern kamen aus dem Ausland. Sie brachten neue Ideen, sie brachten andere Einsichten und haben damit dem Land am Ende wertvolle Hilfe geleistet. Die Insel hat alles aufgesogen und für sich selbst genutzt. 

 

Dabei sind die Menschen in ihrem Herzen Freigeister geblieben. Es sind Freigeister, die sich ganz bewußt über ihre Andersartigkeit definieren und sie zelebrieren, wie kaum ein anderes Volk. Das zieht sich bis heute nicht nur durch die gesamte Politik sondern auch durch jeden Bereich des Alltags. Hier wird links gefahren, die Fenster haben immer noch eine zugige Einmalverglasung und die Elektroinstallationen der Häuser sind ebenfalls ungebrochen selbstgemachte Bastelarbeiten, die Handwerker in anderen Länder das Grausen lehren würden. Nirgendwo sonst werden Heiler, Elfen, Geister und Magie in so hohen Ehren gehalten. Nirgendwo sonst, sind die Häuser so unpraktische und verwinkelt gebaut, dass ich jedes Mal den Kopf schüttle, wenn ich wieder mal diese engen steilen Treppen in den ersten Stock eines Hauses erklimmen muss. Doch genau das macht dieses Land auch so unglaublich liebenswert. Die Menschen haben ihren eigenen Kopf und komme, was da wolle, sie behalten ihn auch. Das war schon zu Zeiten von Henry VIII. und Elisabeth I. so und das wird auch so bleiben. 

Es gibt auch kaum ein Land, in dem die Grenzen zwischen Adel und bürgerlichem Volk bis heute so klar sichtbar geblieben sind und hingebungsvoll gepflegt werden. Genauso wie die jeweiligen Traditionen und die Sprachunterschiede. Sobald ein Engländer den Mund aufmacht, weiß man genau, ob man es mit einem Mitglied der gehobeneren Schicht oder einem Arbeiter aus dem Black Country zu tun hat. Die Bildung, die Regierungsstruktur, der Grundbesitz, alles ist bis heute hierarchisch aufgebaut. Wer nicht den entsprechenden familiären Hintergrund oder das entsprechende Kapital hat, findet kaum einen Weg in die höheren Positionen und Etagen. Und der Standesdünkel der Adligen oder besser Betuchten ist in England wirklich sprichwörtlich. Sie halten sich für besser und pflegen die Unterschiede, wie kaum ein anderes Land Europas. An oberster Stelle steht - bis heute - die Königign. Sie ist die unangefochtende moralische Instanz des Landes. Vielleicht wirkt auch hier die Geschichte. Schließlich war es Elisabeth I. die ihr Land vor der spanischen Armada und dem sicheren Untergang bewahrt. Das war eine echte Zäsur im Selbstverständnis dieses Volkes. Bis heute ist es praktisch so, dass ihre regelmäßigen Audienzen von den jeweiligen Premierministern gefürchtet sind. Auch wenn sie, strenggenommen eigentlich keinerlei Regierungsgewalt hat, macht ihre Art aus gestandenen Männern kleine Jungen, die vor jeder erhobenen Augenbraue zittern. Ich könnte mir gut vorstellen, das allein ihre Präsenz den Lauf der Geschichte schon öfter verändert hat. 

 

Die Bürgerlichen haben es den Adligen in vielerlei Hinsicht nachzumachen versucht. Auch mit ihrem Grundbesitz. Ich habe das besonders beim Wandern erfahren. Verschlungenere, hakenschlagendere, zugebaute und abenteuerlichere Pfade über Grundstücke habe ich nirgendwo erlebt. Der Raum ist knapp, weil die Grundstücke des Adels so ausufernd sind. Auf dem Rest drängen sich alle anderen. Und jeder zieht einen hohen Zaun um sein klitzekleines Königreich. Also kann man durchaus fast kilometerlang durch eine enge Gasse an überkopfhohen Mauern und Zäunen wandern, ohne mehr als das Stück Himmel über sich zu sehen. Als Gegenstück kommt dann ein Riesengrundstück, bei dem man dem Schlossherren fast auf den Teeteller schauen kann, weil der Wanderweg direkt am Wohnzimmerfenster vorbeiführt. Die Wegeführung ist heilig. Sie wurde schwer erkämpft und wird durch jährliche Begehungen in seiner Existenz bestätigt. Es ist eines der Beispiele, wo die Bürgerlichen gegen die Adligen ihre Interessen durchsetzen konnten. 

 

Diese Zerstückelung und Zerschneidung des Landes fällt mir auch auf, wenn ich an die wunderbaren Steinkreise in Avebury oder Stonehenge denken. Dieses Land, energetisch, eine ungeheure Kraft. Es fühlt sich so an, als wäre sie so übermächtig, das vielbefahrene Straßen unmittelbar an diesen Orten vorbei- oder mittendurch führen müssten und die Stille stören. 

 

Diese Einstellung des Adels von einer gewissen Überlegenheit, die natürlich auch mit entsprechenden Verpflichtungen einhergeht, hat England in die Welt hinausexportiert. Die Engländer sind diejenigen, die in stoischer Ruhe und immer unter Wahrung des Gesichts und der Körperhaltung die Welt mit ihren Werten erobert haben. Dieses Land war und ist bis heute eine der größten Kolonialmächte der europäischen Nationen. Und anders als alle Anderen, sind sie bis heute ungemein stolz darauf. Daran hat kein Krieg und kein Widerstand etwas ändern können. Die Nationalhymmne besingt bis heute lautstark diese Überlegenheit und wird bei jedem Anlass von allen Engländern gesungen. Ausnahmslos und überzeugt. Das britische Empire war eine Macht. Das heute Commonwealth folgt in ihren Fußstapfen. Ohne England gäbe es kein englisches Australien, kein Neuseeland, kein Indien. Ohne den Einfluss der Engländer wäre es aber auch zu keinem Mahatma Gandhi gekommen. Die Medaillie hat immer zwei Seiten und birgt ungeahnte Schätze. 

Doch es gibt auch ein ganz anderes England. Das, der Industriealisierung. Das, der Unterpriveligierten. Derjenigen, die in den Kohleminen und Stahlwerken der herrschenden Schichten ihr Leben liessen. Ihre Wohnsiedlungen sind genauso unverkennbar, wie die Schlösser auf der anderen Seite der Extreme. Sie sind dort geblieben, wo es früher Arbeit gab und jetzt an den meisten Stellen Arbeitslosigkeit vorherrscht. Ich kenne die langsam verfallenen Innenstädte, die von besseren Zeiten träumen. Ich kenne die Mütter mit den vielen Kindern. Und ich kenne den teilweise erschreckenden Gesundheits-, Bildungs- oder Ernährungsstand in diesen Schichten der Gesellschaft. 

 

Seit vielen Jahren wird versucht, Brücken zu bauen, doch die ursprüngliche Einstellung von einem Besser und Schlechter hat sich nicht verändert. Zusammenschließen tut man sich nur, wenn es gegen eine Bedrohung von außen geht. Nur eines muss immer sicher sein, der Weg darf nie dem des Kontinents ähneln. Schließlich ist man eine Insel. Schließlich ist man England!

 

Was auch immer die Politik und das Selbstverständnis dieses Volkes treiben - ich freue mich jedes Jahr wieder herzukommen. In diese kondensierte Vergangenheit mit den freundlichsten Verkäufern der Welt, den drolligsten Sprachkapriolen, den schrulligsten alten Damen und den verwinkelsten Gespensterhäusern, die sich die Phantasie ausmalen mag. Ich liebe die weiten grünen Hügel, diese prachtvollen Gärten und die herrlichen Hausfassaden. Ich liebe dieses Traditionsbewußtsein. Es ist zuviel, stimmt, aber es hat auch genau den Schwung, der mir aus meiner Heimat fehlt. Vielleicht ist es deshalb so anziehend durch Oxford's Straßen zu schlendern oder Shakespeares Versen zu lauschen. Vielleicht steht auch ich deshalb immer mal wieder vor dem Buckingham Palace und halte nach der Queen Ausschau. Und vielleicht fühle ich mich auch deshalb sowohl in der Westminster Abbey als auch in Stonehenge komplett und ganz und gar heimelig.

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