Verdun hat seinen Einfluß weit voraus geworfen. Ich habe mich schon lange mit der Geschichte des Ersten Weltkriegs beschäftigt, mit den Hintergründen und mich durch alle Bücher gelesen, die ich zu dem Thema finden konnte. Ich habe gefühlt, dass ich auch an den Platz des Geschehens muss.
Aber ich sträube mich dagegen. Ich will dieser Erfahrung ausweichen. Ich habe Angst, dass ich mit den Gefühlen, die dort auf mich einstürmen, nicht klar kommen kann. Ich denke an den Schmerz, das Leid, das Sterben, die Hoffnungslosigkeit, die Wut und den Wahnsinn des Krieges. Bin ich so einem Ort gewachsen?
Auch einen Tag vor der Abreise nach Frankreich - am 11. Mai bleibe ich die Unentschlossenheit in Person. Erst ein Gespräch mit einem meiner besten Freunde bringt mir die Klarheit. Ja - ich kann das. Ich schaffe das. Was immer mich in Verdun erwartet. Es wird mich nicht zerreißen. Ich kann alle Gefühle zuzulassen. Ich kann sie durch mich hindurchfließen lassen. Alle, egal, wie intensiv sie sind.
Ich fühle die Schlachtfelder, noch bevor die Schilder am Straßenrand auftauchten. Wellen von Gefühlen. Angst, vor allem Angst. Ich sehe die Soldaten. Im Kämpfen, im Verbluten. Verstümmelte Körper. Ich spüre die Kugeln, die sie umgebracht haben. In meinem eigenen Körper. Als würden sie mich treffen und langsam töten. Ich bin immer noch einen Hügel vor den eigentlichen Plätzen entfernt und doch ist alles schon da.
Es zieht mich zu einem Platz, nur zu einem Einzigen. Fort Douaumont. Die Straße schlängelt sich durch Kriegsland. Die Bombentrichter sind immer noch zu sehen. Da ist dieses Dorf, das komplett ausgelöscht wurde mit der kleinen Kirche. Und überall fühlbar liegt nur ein kleiner grüner Naturteppich über tiefer Zerstörung. Wie eine Schönheitsoperation, die mißglückt ist. Das Land wirkt vergewaltigt. Und hat sich niemals erholen dürfen. Die Vergangenheit dämpft wie ein lebendiger, erstickender Teppich das Leben, das hier nue wachsen will. Auch jetzt. Mitten im Frühling.
Bei Fort fühle ich erst nichts. Gar nichts. Erst als ich hineingehe in diesen heiß umkämpften Ort, durch endlose Gänge, ändert sich das. Mitten in der "Unterwelt", in der das Wasser tropft und überall dumpfe Feuchte an den Wänden hängt, kommt eine Botschaft. Von der Erde selbst. Von dem Boden, auf dem das Fort steht. Dem Platz.
Ein sehnlicher Wunsch erreicht mich. "Bitte lasst diesen Ort wieder frei blühen. Lasst die Vergangenheit los. Dieses Fort möchte nicht mehr hier stehen. Die Erde möchte wieder Erde sein. Einfach Erde und blühen! Es braucht keine Bombentrichter und keine steinernen Monumente des Krieges mehr hier."
Das Land, die Erde hat es einfach satt, nur unter einem kleinen Blickwinkel von so vielen Jahrhunderten Menschheitsgeschichte betrachtet zu werden. Es ist soviel mehr als vier Jahre Wahnsinn. "Lasst los von dieser Vergangenheit. Lasst los von allem, was ihr damit verbindet. Der Trauer, der Verherrlichung, der Angst, dem Widerstand, dem Entsetzen." Es ist ein Loslassen wie von einem Verstorbenem. Wie ein Loslassen von einem eigenen Anteil. Nachdem man akzeptiert hat, dass er da ist. Ihn angenommen hat. Dann kann man loslassen. Verdun möchte losgelassen werden. Nach 100 Jahren Erinnern.
Nicht nur die Erde hat mir diesen Wunsch vermittelt. Auch die Soldaten. Ich habe sie gefühlt, als ich durch diese Gänge ging. Sie waren wie Geister. Blutleer. Müde. Erschöpft. Sie werden durch das Beharren der Lebenden auf dieser Vergangenheit wie festgehalten in dieser Rolle. Und auch sie sind soviel mehr. Sie wollen nicht mehr. Sie wollen weitergehen. Ich sehe und fühle diese Menschen. Diese jungen Männer. Sie sind an meiner Seite, ich halte ihre Hände. Sie halten meine. Ihr Wunsch ist so dringend. So stark. So klar. "Lasst uns gehen!" Und die Botschaft an mich ganz persönlich. Lass zuerst du uns gehen. Lass du los!
Ich tue es. Und mir wird ganz leicht im Herzen. Ganz, ganz leicht. Ich sehe den Platz von einem Augenblick zum Anderen mit neuen Augen. Ich sehe, was noch hier ist, was das sein könnte. Ich sehe einen blühenden Garten. Wem nützen alle diesen toten Monumente? Wem nützen alle diese Krater? Ich möchte nicht ein einer Welt der Erinnerung zu leben, abgeschnitten vom Fluß des Lebens. Ich möchte nicht in einem Grab leben. Es ist wie eine Entscheidung. Ich habe sie getroffen. Und die Kraft des Lebens wird für mich ganz spürbar und präsent, genau im Moment der Entscheidung. Genau hier. Genau jetzt.
Pure Freude steigt in mir auf. Ich setze mich in mein Auto, lache und greife zu Erdbeeren. Ich genieße sie in vollen Zügen. Und ich spüre die Soldaten um mich herum, die mit mir lachen.
Sie feiern das Leben.
So, wie ich. Zum ersten Mal.
Seit langer, langer Zeit.
Endlich!