16,2 Kilometer
Nur leichtes Auf und Ab
Es ist herrliches Wetter. Sonnenschein, blauer Himmel. Ich schlüpfe in Schuhe, die noch genauso nass sind, wie am Tag vorher, aber die Sohlen sind nachts getrocknet und ich habe neue Socken an den Füssen. Die Schuhe werden beim Laufen trocknen - das habe ich gestern vom Ranger gelernt und ich glaube ihm einfach. Außerdem gibt es sowieso keine Alternative. Und ich bin nicht im geringsten dazu aufgelegt, mir von irgendetwas Äußerem die wunderbare Stimmung verderben zu lassen.
Die Sandfly's umschwirren mich, wie immer im Fjordland. Aber das Wunderland vor meinen Augen können auch sie nicht schmälern. Ich gehe auf Entdeckungsreise. Erst ohne Rucksack, hinüber zum tosenden Wasserfall und dann voll bepackt, weiter zu nächsten Hütte und damit zum Manapouri See.
Wieder bin ich die Letzte. Alle anderen sind schon frühzeitig auf den Trail gestürzt. Aber Stille gibt es in der Hütte trotzdem nicht. Sie ist eine Baustelle, die Maschinen lärmen und am Ende bin ich froh, weiterziehen zu können.
Der Tag heute könnte für mich ewig dauern. Es gibt so viel zu sehen, so viel zu aufzunehmen, so viel mit den Augen zu liebkosen und hinein in mein Herz zu lassen. Ich bin von einer absoluten Schatztruhe umgeben. Jeder Blick offenbart neue Schönheit. Grüner Dschungel. Mooslandschaften, wie aus dem Märchenbuch. Das ist pures "Lord of the Rings"-Land. Meine Kamera kommt kaum zur Ruhe und meine Seele ist so voller Freude, das ich überfließe, wie diese wunderbaren Wasserfälle von gestern. Deswegen bin ich hierhergekommen. Genau wegen dieser unglaublichen Welt aus üppigstem Grün. Wegen der Weichheit der Polster am Boden, wegen der zarten Flechten, die sich um die Baumstämme schmiegen wie Perlenketten. Wegen der verschlungenen Wurzelwerke, die weder Anfang noch Ende erkennen lassen.
Alles um mich herum ist Kunst, die jedes Gemälde zu einem bloßem blassen Kopierversuch machen. Perfektion der Natur. Eine Perfektion voller Seele, voller Energie und voller Leben. Es sprüht nur so vor Genialität. Jede Blüte um mich herum strahlt in ihrer eigenen Schönheit. Orchideen genauso wie die kleinste unscheinbare Pflanze.
Ich kann mich nicht sattsehen. Ich möchte überall stehenbleiben und einfach nur jedes Detail ganz in mich aufnehmen. Meine Schritte sind sehr langsam heute. Sehr bedacht. Und mein Wunsch nach Ankommen liegt in weiter, weiter Ferne. Ich bin ganz hier. Ganz im Jetzt. Und ich schwelge in einer Pracht und Fülle, wie sie diese Erde überall hervorbringt, wenn ihr keiner in die Quere kommt.
Für mich ist das hier das Paradies. Nur, mein Paradies würde die Sandfly's nicht brauchen. Nicht als Blutsauger beim Menschen. Warum auch?
Neben mir rauscht ein Fluß. Er wird breiter und breiter und mündet am Ende des Tages im See. Der erste Strand ist schon ein Gedicht. Schneeweißer Sand, glasklares Wasser. Im Augenblick ist es mir noch zu kalt zum Schwimmen. Aber wie wäre es mit morgen früh?
Die Hütte kommt in mein Sichtfeld, aber ich habe die Menschen schon lange vorher gesehen und gehört. Für mich ist sie nur ein Nachtquartier. Ein unerwünschtes. Ich wäre lieber in meinem Wunderland geblieben, hätte irgendwo auf dem Weg meinen Schlafsack ausgebreitet und wäre mitten im Moosteppichhimmel eingeschlafen. Aber das ist nicht erlaubt. Erlaubt ist es nur, 100 Meter vom Trail, Wasser oder Hütte entfernt ein Lager aufzuschlagen. Oder waren es 500? Ich weiß es nicht genau, ich weiß nur, das ich so einen Platz in diesem Dickicht nicht finden kann. Dazu bin ich zu wenig Neuseeland-Busch-Erfahren. Ich würde entweder nicht zurückfinden oder bei einer Flußüberquerung untergehen. Hier kenne ich meine Grenzen sehr genau. Diese Natur will akzeptiert werden.
Aber trotzdem - es ist so schade, inmitten dieser herrlichen Welt in einer Hütte mit diesmal 40 Leuten schlafen zu müssen. Getrennt von der Stille und den Geräuschen der Nacht. Getrennt von dem grandiosen Sternenhimmel.
Der Himmel grüßt mich nur durch das Fenster - immerhin - und ich falle unendlich zufrieden über diesen fantastischen Tag in tiefen, tiefen Schlaf.