Überblick

Als Kind war ich fast jedes Jahr hier oben in Thüringen. Im Sommer, im Winter, schwitzend, frierend. Hier war ich zum ersten Mal verliebt und hier habe ich meinen ersten Kuss auf den Lippen gefühlt. In Friedrichshöhe habe ich meine ersten kleinen Hupfer auf einer selbstgebauten Schanze gewagt und in Masserberg ist mir ein unfreiwilliger Salto auf Skiern geglückt (inklusive perfekter Landung). Der Rennsteig ist verbunden mit wild flatternden Schmetterlingen im Bauch, dem Geschmack frischen, klaren Quellwassers, dem Rauschen des Waldes und langen, langen Wanderungen. 

 

Der Weg ist gepflastert mit Erinnerungen und vielleicht bin ich ja deswegen hier - um mir selbst wieder zu begegnen.

 

Auf jeden Fall ist kein Ort besser geeignet, um mich wieder mit Deutschland und seinen kühlen Oktober-Temperaturen in Kontakt zu bringen. Ich habe die herrlichen Herbstfarben der Bäume fast vergessen über all das Grün von Neuseeland. Genauso wie die hiesigen Nebelschwaden, die das Sonnenlicht erfolgreich verstecken. Ich kenne nur noch den Sommer - azorianisch, neuseeländisch, australisch, griechisch, schottisch. Und ich habe mich nach der kühlen Luft gesehnt, die jetzt in meine Lungen strömt. 

 

Es kann losgehen. Diesmal endlich ganz vom Anfang des Rennsteigs in Hörschel bis zum Ende. Ohne ein Stück wegzulassen. Ich will jeden Schritt gehen. Jeden. So, wie ich es noch nie vorher getan habe....

Ich stehe tatsächlich am Anfang des Rennsteigs. Direkt am Ufer der Werra. Der kleine Kieselstein mit dem kupfernen Herz liegt in meiner Hand, das Schild mit der Kilometerangabe bis Blankenstein winkt hinüber und ich bin einfach nur glücklich. 

 

Die ersten Schritt hinauf durch diesen herrlichen Buchenwald - pure Freude. Und auch als der Himmel kurze Zeit später entscheidet, mich gleich mal zu duschen, kann das mein glückliches Lächeln nicht vom Gesicht wischen. Dafür gibt es Regensachen, also, was soll's... Vorbei an tollen Aussichtspunkten, von denen ich heute keinerlei Aussicht habe - vorbei an einer Pferdeweide, vorbei an kleinen Orten.... Immer weiter nach oben. Zwischendurch begegnet mir ein Auto, der Fahrer hält den Daumen hoch und schickt mir in dieser kleinen Geste Respekt und Grüße durch die Scheiben - es tut richtig gut.

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Ich geniesse - es ist ein traumhafter Morgen. Früh gehe ich los, durch den Nebelwald. Alles ist verwunschen um mich herum, verkleidet, in ein weiches, weißes Kleid, das alle Konturen und alle Gewissheit verwischt.

 

Das Telefonat, das ich heute führe, von dieser kleinen Hütte am Wegesrand, zieht mit den Boden unter den Füssen weg. Auch da schwindet eine Gewissheit. Es geht um etwas ganz Simples - die Einsatzplanung für das kommende Jahr. Meine Gruppen, meine Reiseleitungen. Meine Wünsche und die Realität dieser Welt, die konträr aufeinanderkrachen wie verfeindete Armeen. 

 

Es gibt keinen Weg, meine Wünsche mit den freien Terminen in Übereinklang zu bringen. Es gibt keinen gangbaren Weg, dorthin zu gehen, wohin mein Herz mich eigentlich ruft im nächsten Jahr. Es gibt auch keinen Weg, außerhalb von Europa zu arbeiten. Wohin ich mich auch wende, ich stoße auf eine Mauer.

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Ich komme nicht weit, heute. Das Wetter bleibt neblig, trüb, es nieselt leise vor sich hin und in mir tobt weiterhin der Sturm und der Umbruch. Ich stelle alles in Frage, das gesamte Reisen. Was will ich eigentlich in den anderen Ländern? Was mache ich da? Laufe ich vor etwas weg, so wie es mit Sicherheit viele Leute betrachten würden oder nicht? Ich fühle mich selbst nicht mehr. Und entsprechen schlapp, energielos, antriebslos und sinnlos erscheint mir alles.

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In dieser Nacht hat sich alles verändert. Aus dem Nebel, der gerade mal den nächsten Strommmast vage erkennen ließ, ist ein klarer Morgen geworden. Weite Blicke über die schönste Bergwiese am Rennsteig. Ein plätschernder Brunnen. Kühle Luft. Mein Frühstück absolviere ich in Rekordzeit, raus, einfach nur raus in diese wunderbare Welt!

 

Meine Füsse tragen mich wie von selbst, ich strotze nur so vor Energie und Tatendrang. Diesmal sortiert mein Kopf keine Enttäuschungen und die Tränen haben Urlaub - ich erhasche Zipfel um Zipfel meines neuen Lebens. Und ich spüre die Lust wieder. Die Lust darauf, ich selbst zu sein. Mit Haut und Haar. 

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Es zieht mich hinaus. Strahlend blauer Himmel. Der Sonnenaufgang lockt. Frühstück? Später. Erstmal will ich nur laufen, laufen, laufen. Hinein in diesen wunderschönen Tag.

 

Die Erinnerungen kommen sofort, nachdem ich wieder auf dem Hauptweg bin. Hier bin ich mit meiner Rennsteig-Gruppe unterwegs gewesen. Enthusiastisch, unerfahren und nur mit dem Wissen aus einer Mountainbike-Erkundung gewappnet, bei der ich natürlich ganz anders und vor allem viel schneller unterwegs war, als jetzt zu Fuß. Prompt hatte ich eine Gruppe, die unterschiedlicher nicht hätte sein können. Alle Extreme auf einmal. Die Unzufriedenheit, die mich damals umgab, kann ich auch jetzt noch fühlen. Es wird Zeit, sie loszulassen. Vielleicht bin ich auch deswegen hier. Um ein mittelschweres Trauma zu heilen...

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Soviel Zeit. Soviel Ruhe. Das ist mein Lieblingstück des Weges, denn alles ist vertraut. Masserberg. Friedrichshöhe. Wieviele Winter, wieviele Sommer habe ich hier verbracht? Wie oft bin ich diesen Anstieg zur Rennsteigbaude schon gelaufen? Ich kann es nicht zählen. Erinnerungen blitzen hoch. 

 

Dieser steile Hang, an dem ich meinen ersten und einzigen Salto Mortale auf Skiern probiert habe. Der scheinbar leichte Hügel, bei dem man so viel Geschwindigkeit aufbaut, das es fast unmöglich ist, die Spur zu halten oder Kurven zu ziehen. 

 

Ich bin Rennen gefahren auf der Strecke, ich bin hinter meinen Eltern her getrottet, bunte Bilder von fremden Welten im Kopf. Ich habe meinen ersten Kuss erlebt - im tiefen Schnee - und die erste Liebe. 

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Noch bleibe ich in Thüringen, aber die Energie der Strecke hat sich verändert. Die ehemalige Grenze rückt näher, der Himmel ist grau, ich verlasse meinen Lieblingsort und ich weiß, das mich heute relativ viele Straßen begleiten werden. Umso mehr genieße ich die Strecken, in denen noch Stille herrscht. Von Friedrichshöhe hinunter nach Limbach, von Neuhaus bis nach Spechtsbrunn. Dazwischen wird es mühsam, zu gehen. Der Lärm der Hauptstraße ist zu nahe. Er zerrt unmerklich und beständig an meinen Sinnen und macht mich müde. 

 

Und selbst, wenn da mal ein Stück ist, an dem ich eigentlich die Aussicht genießen wollte, funkt die komplette Kindergartenbelegung von Limach dazwischen. Liebe ich Kinder? Im Augenblick nicht. 

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Es ist ein Vorteil, die Strecke schon zu kennen. Ich weiß ganz genau, wo ich schnell laufen muss und will und wann die idyllischen Abschnitte auf mich warten. 

 

Der Morgen ist herrlich. Nebelverhangen. Das kaschiert den Lärm der nahen Straße und verdeckt sogar die Unbilden des asphaltierten Wanderweges. Ich bin im Frankenwald, hier ist alles anders. Die Segnungen des Reichtums haben viel kaputt gemacht, die Ursprünglichkeit zubetoniert und den Auto's die absolute Piorität gegeben. Der eigentliche Wanderweg würde bis Steinbach am Wald direkt an der Frankenwaldhochstraße entlangführen. Über acht Kilometer Asphalt im stetigen Verkehrslärm.

 

Gott sei Dank gibt es eine wunderschöne Alternative. Auf kleinen Pfaden, durch richtig urige Landschaften. Aber die Straße bleibt nahe. Ich höre sie, die ganze Zeit und es fällt mir super schwer, das auszublenden. Für mich ist es so, als würde der Lärm alles überdecken, wie ein schwarzes, schweres Leichentuch. Selbst der strahlende Sonnenschein kann diesen Eindruck nicht ganz weg-leuchten. Ich bleibe schnell, will einfach nur weiter. Weg von hier. 

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Genießen, pures Genießen. Jeder einzelne Schritt ist eine Feier. Die letzte Etappe, das letzte Stück des Weges. Und ich weiß, das mich heute weite, wundervolle Ausblicke begleiten werden. Der Morgennebel verschwindet bald und ich kann schwelgen, eintauchen und ganz still mit diesem Meer aus Himmel und Erde verschmelzen. 

 

Die kleine Straße stört mich nicht so sehr, wie ich befürchtet habe. Meine Sinne sind viel zu sehr auf eine andere Welt eingestellt. Da sind die Auto's wie Fliegen, die am Rand der Wahrnehmung herumbrummen. Nicht weiter schlimm. Es ist sooo schön. Ein hinuntergleiten. Ganz sacht. Seit Schlegel geht es bergab. Sanft. Und an jeder Ecke lädt mich eine Bank zum verweilen ein. Heute gehe ich nicht achtlos vorüber. Heute ist ein Tag es Innehaltens und ganz bewußten langsam Gehens.

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Heilarbeit für Menschen, Orte und die Erde 0